Skulptur als Kunst des Möglichen
1.
"Streifen warten nicht, sie kennen keinen Stillstand. Sie sind immer in Bewegung (darum haben sie die Künstler, Fotografen und Filmemacher immer so fasziniert), sie beleben alles, was sie berühren, schreiten ununterbrochen voran, als trage der Wind sie fort."
(Michel Pastoureau: Des Teufels Tuch. Eine Kulturgeschichte der Streifen und der gestreiften Stoffe, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 7)
2.
Streifen bilden eine Struktur und haben eine Botschaft. Sie dominieren über die Form, prägen sie mittels ihrer optischen Signifikanz. Und sie prägen sich ein. Sie sind geradezu daraufhin angelegt, aufzufallen. Im Mittelalter verwiesen sie auf die Eigenschaften ihrer Träger, die aus ihnen abgelesen werden konnten. Gestreiftes, vor allem in der Kleidung, aber auch auf Wappen, war ein Zeichen der Differenz, des Abstandes zur Normalität und wurde zur Kennzeichnung gesellschaftlicher Außenseiter verwendet: des Henkers, des Narren, des Musikers, des Bastards, der Prostituierten. Das Gestreifte war ein Signum der Störung, der Gefahr, der Asozialität, all dessen also, was aus der gottgewollten Ordnung der Dinge herausfiel. Zu jener Zeit wurde dies automatisch mit dem Bösen identifiziert. Mit dem Bösen kommt man nicht gern in Berührung, man meidet es. Die Funktion von Streifen bestand also vor allem darin, Distanz zu schaffen: Sie dienten als Warnung, indem sie jene auf den ersten Blick kenntlich machten, denen man aus dem Weg gehen wollte bzw. sollte.
3.
Charakteristisch für das Mittelalter ist die Dominanz, die Prävalenz der Zeichen. Ein peinlich genau geregeltes System von Unterscheidungen wies über die Kleidung den sie tragenden Personen ihren Rang in der Gesellschaft zu. Kleider machen Leute, auch heute noch. Doch die Wertigkeit hat sich gewandelt, manchmal sogar ins Gegenteil verkehrt. Wer im Nadelstreif erscheint, strahlt eine andere Art von Differenz und Unantastbarkeit aus, nämlich jene des Distinguierten. Soziale Codes verändern sich, wechseln ihre Bedeutung, sind Moden unterworfen, die ihrer Verbindlichkeit zum Teil enge Grenzen setzen. Außerdem können sie bewußt zum Zweck der Täuschung eingesetzt werden. Die Geltung von Codes ist die Grundlage der Verkleidung, der Tarnung der eigenen Position, indem man sich mittels Mimikry einer anderen Umgebung anpaßt. Der äußere Schein überdeckt das Wesen, das sich hinter ihm verstecken kann. Auf diese Weise wird eine Nähe möglich, die sonst nicht zustande käme: Kalifen mischen sich unter das Volk, der Zar wird zum Zimmermann, während andererseits einfache Leute aufgrund ihrer prächtigen Kleidung für hochgestellte Persönlichkeiten gehalten und entsprechend behandelt werden, wie in Gottfried Kellers bekannter Novelle.
4.
Wenn Claudia Klučarić die 14 Metallskulpturen, die sie unter dem Titel 'communication Systems II, III & IV' zusammengefaßt hat, mit Hüllen aus - mit einer Ausnahme - gestreiften Markisenstoffen umgibt, dann schwingt in deren scheinbar neutral-bunten Mustern durchaus noch etwas von den oben erwähnten Funktionen des Streifen-Codes mit. Dieser strukturiert die Formen und bringt die Einheitlichkeit des Materials zum Verschwinden, dessen Härte und Sperrigkeit rein optisch durch textile Leichtigkeit ersetzt wird. Der Stoff differenziert und uniformiert zugleich. Zwar sind alle Streifenmuster untereinander verschieden, gleichzeitig verbindet sie aber eine gemeinsame Struktur und Ausrichtung: Jede Skulptur besitzt eine Standposition, in der die Streifen genau senkrecht stehen. Es handelt sich also um ein Ensemble von Individualitäten, das sich nicht nur im Formalen unterscheidet, sondern auch über die Oberflächen. Andererseits ist eine Rückverwandlung in den elementaren unverhüllten Zustand jederzeit möglich. Der Signal- und Zeichencharakter tritt dann zurück und macht der in sich geschlossenen plastischen Form Platz, die, kalt und kantig, wie sie ist, zur Selbstgenügsamkeit neigt. Die kommunikative Kompetenz der Streifenmuster steht so im Kontrast zur abweisenden, primär die eigene Materialität und die Spuren von deren Bearbeitung transportierenden Ansicht im "Rohzustand". Der Code wirkt auf die einzelnen Signifikanten gemeinschaftsbildend, während sein Fehlen distanzschaffend und isolierend wirkt.
5.
Claudia Klučarić inszeniert Skulptur als Ereignis, aber nicht im Sinne des Spektakels, sondern eher im Sinne des Dramas, das heißt als Versuchsanordnung für mögliche Beziehungen. Die einzelnen Teile der Arbeit sind klar definiert, aber in ihrer Aussage nicht definitiv, weil sie in ihrer Wirkung und Bedeutung voneinander abhängen. Ihre Positionierung ist variabel, sie können beliebig zusammengestellt, voneinander abgerückt, gegeneinander verschoben werden. Ein wesentlicher Aspekt von 'communication systems II, III & IV' ist die Teilnahme anderer Personen an der Aufstellung. Die Kommunikationsstruktur wird auf diese Weise vervielfältigt, die Ausstellung bzw. das Werk entsteht in gewisser Weise alle zwei Tage neu und ermöglicht dem Besucher eine Auseinandersetzung mit wechselnden inhaltlichen Bezügen. Das jeweilige Arrangement ist also stets ein vorläufiges, die Realisierung einer bestimmten aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten. So entsteht eine Situation der Offenheit, in der das mehr oder weniger festgelegte Gegenüber von Werk und Betrachter aufgehoben und ersetzt wird durch wechselnde Konstellationen, die das Resultat sind aus der Stellung der Skulpturen im Raum und der Bewegung des Besuchers, der, um sich ihnen zu nähern, immer neue Verhältnisse zu ihnen suchen und mit ihnen eingehen muß. Dieser wird als Variable in das Spiel der Konkretion von unterschiedlichen Seins-Zuständen miteinbezogen, wird Teil einer Realität, die in ihm und zugleich durch ihn Gestalt annimmt und dabei in einem ständigen Transformationsprozeß begriffen ist. Skulptur als Kunst des Möglichen, deren Flexibilität jede drohende Didaktik zerschlägt, erstarrte Strukturen öffnet, Veränderung und Entwicklung zuläßt.
6.
"Das Verhältnis all dieser Dinge zueinander - warum sie in dieser Beziehung zueinander stehen, warum sie jetzt hier sind und nicht da, warum das dort ist und nicht hier - finde ich wunderschön, und ich sehe darin einen Ausdruck unserer menschlichen Natur (...). Die Beziehung der Dinge untereinander drückt unsere Wahrheit aus, unsere Art der Spiritualität, zumindest deren mögliches Vorhandensein."
(Sean Scully in einem Interview mit Hans-Michael Herzog, 1995)