Claudia Klučarić

Text von Harald Jurkovič aus dem Katalog A PRECIOUS PRESENT, erschienen anläßlich der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie bei den Minoriten, Graz 1994

NO COMMENT (NECESSARY)
Umschreibungen, immer am Rande hin, berühren, ohne zu begrenzen.

"Es gibt einen Hermetismus, in welchen man nicht eindringt, weil er verschlossen bleibt, einen anderen, in den man eindringen kann, und der einen einschließt, und denjenigen, der einen dazu auffordert, hineinzukommen, um zu öffnen, was verschlossen ist."
Antonin Artaud

Die Geschichte der Bildkunst begann als Liebesgeschichte. Die Tochter des Töpfers Butades – so berichtet Plinius in seiner historia naturalis – hielt das Profil ihres Geliebten fest, indem sie die Umrisse des Schattens nachzog, den es, von einer Lampe beleuchtet, an die Wand warf. Der Geliebte zog fort, sein Bildnis blieb.

So war das Kunstwerk von Anfang an ein Ort der Erinnerung, der Bewahrung, ein Ort des Trostes und der Sehnsucht. Alle privaten Weisen seines Gebrauchs, die heute noch ihre Gültigkeit haben, sind in diesem ersten bereits klar ausgeprägt. Diese Funktionen sind im Grunde magische Beschwörungen: Im Bild soll das Abwesende anwesend sein, das Vergangene gegenwärtig, in ihm soll der Mangel aufgehoben werden und die Fülle/Erfüllung an seine Stelle treten. Aus der Spannung zwischen dem nicht mehr und dem noch nicht Seienden tritt – als fernes Echo und lockendes Versprechen – das Bild als bedeutende, mit Gedanken und Gefühlen besetzbare Fläche in Erscheinung. Die Utopie ist somit der Fluchtpunkt, dem die Kunst zustrebt, ohne ihn je zu erreichen. Was sie stattdessen erreicht, ist das Werk, das von unerfüllten Wünschen und unerfüllbaren Hoffnungen erzählt.

Die zweite mythische Quelle des Bildes ist der Spiegel. Doch dieser ist ein ambivalentes Instrument, der Umgang mit ihm ebenso nützlich wie gefährlich. Er dient sowohl der Erkenntnis, dem Wissen, als auch seiner Verschleierung und Verfälschung, der Eitelkeit und dem Betrug. Das Bild, das uns der Spiegel zeigt, wenn wir hineinschauen, täuscht den anderen nur vor. Die Liebe zu diesem imaginären Gegenüber erweist sich als fataler Reflex mit letalen Folgen: Narcissus, verzückt in sein Spiegelbild sich versenkend, verzehrt sich in fruchtloser Eigenliebe. Narcissus stirbt, sein Name aber lebt in zwei Bezeichnungen weiter: als Frühlingsblume, in die sein toter Körper sich der Sage nach verwandelt hat und als psychoanalytischer Begriff. Erstere geht als Form in das Bild ein, während letzterer einen Ansatz zu ihrer möglichen Deutung liefert. Freud unterscheidet zwischen primärem Narzissmus, einer frühen Entwicklungsstufe, in der die Libido des Kindes noch ganz auf sich selber fixiert ist, und sekundärem Narzissmus, der sich beim reifen Individuum immer dann einstellt, wenn sich die Libido von einem Liebesobjekt auf das eigene Ich zurückzieht. Nur letzterer soll uns hier interessieren. Die Beziehungen ruhen, der energetische Fluß kreist in sich, bis er durch eine erneute Objektbesetzung wiederum nach außen tritt. Es handelt sich also um einen vorübergehenden Zustand der Latenz, während dessen sich das Selbst verschließt, bis es bereit ist, sich dem anderen wieder zu öffnen, sich auf es und mit ihm einzulassen. Auf den Mythos übertragen erscheint somit die Möglichkeit gegeben, die Metamorphose rückgängig zu machen: Narziß feiert, indem er sich vom Spiegelbild losreißt, seine Auferstehung. Sein im leeren Selbstbezug erstarrtes Auge wird, wenn es sich dem anderen aufschließt, sich ent-schließt, zu dessen Spiegel, zum aufnehmenden, begehrenden Spiegel und damit lebendig. Über das Auge fließen die Bilder ins Herz, nisten sich dort als In-Bilder ein: so beginnen Passionen, Liebes-, Leibes-, und Leidensgeschichten, auseinander hervor- oder ineinander aufgehend, sich gegenseitig enthaltend oder entfaltend.

Liebesgeschichten sind Verwandlungsgeschichten und das nicht erst seit Ovid. Von der Liebe sprechen heißt in Gleichnissen reden, in Beispielen, Analogien, Metaphern. Kaum etwas ist wirklicher (als Erlebnis) und zugleich unfassbarer (was ihre Mitteilbarkeit betrifft) als sie. Liebe bringt zum Vorschein, macht sinn- und augenfällig. Sie ist nicht nur der Ursprung der Kunst, sie ist auch der Ursprung des Wissens: ohne Liebe zum Wissen keine Philosophie.

Daher ist jede Liebesgeschichte auch eine Schöpfungsgeschichte. Grundlage dafür ist die Definition des (weiblichen) Körpers als Raum, der etwas aufnimmt und in sich wachsen lässt. Formen definieren sich durch ihren Umriß, Räume durch ihren Inhalt: Fülle und/oder Leere. Die symbolische Qualität des Körpers/Raumes zeigt sich in der Mannigfaltigkeit der Formen, die er annehmen kann. Schon die Augen sind nicht nur Flächen, Spiegel, sondern Höhlen, die sich des im Blick begehrten bemächtigen und es in sich hineinziehen. Grenzen, die Autonomie und Identität sichern, werden durchlässig, lösen sich auf.

Bilder öffnen den Raum und geben sein Inneres preis. Sie gewähren Einblicke und ermöglichen Einsichten. Im Bild wird das durch Introjektion in ihn Eingegangene sichtbar gemacht und bloßgelegt. Sanfte Schnitte, längs und quer: Anatomie einer Leidenschaft, Vivisektion von Gefühlen. Bekenntnisse, die Zeugnis ablegen und standhalten müssen: dem eindringenden Blick, der bohrenden Frage. Einverleibtes wird aus der Tiefe des Unbewußten herauspräpariert, die Psyche ausgelotet, bis das Verinnerlichte ans Licht kommt.

Erst in der direkten Begegnung mit dem anderen konkretisiert sich der Körper als menschlicher und zugleich geschlechtlicher, nimmt er den Partner in sich auf oder verschmilzt mit ihm. Wiederum trifft die individuelle Erfahrung auf den Mythos, in dem unsere kollektiven Erfahrungen aufgehoben sind und er daher als Paradigma, als Urbild dient, auf das immer wieder zurückgegriffen werden kann. Ursprünglich, so erzählt Aristophanes in Platons Symposion, gab es drei Geschlechter: neben dem männlichen und dem weiblichen lebte ein drittes, das an den beiden anderen gleichermaßen Anteil hatte. Überdies war damals die Gestalt der Menschen rund und sie besaßen vier Hände, vier Füße und zwei Gesichter. So groß und übermenschlich war ihre Kraft, daß sie sich vermaßen, den Himmel zu stürmen. Die Rache der Götter war ebenso grausam wie raffiniert: Anstatt sie zu töten, schnitt Zeus die Menschen in zwei Teile.
Von dieser Zeit an ist Eros den Menschen eingeboren, damit er sie zu ihrer alten Natur zurückführe und aus zwei Wesen wiederum eines mache.

Mit dem Geliebten zu verwachsen, um die Einsamkeit, das unabweisbare Gefühl des Mangels aufzuheben: das ist der Ursprung aller Sehnsucht. Die Suche nach jenem anderen, der als Gegen-Teil notwendig zum Ganzen, zum Ganz-Sein gehört, ist unser Schicksal. Wiederum setzt die Kunst dort ein, wo die Realität sich unseren Bedürfnissen versagt. Nur im Bild kann die Verschmelzung von Männlichem und Weiblichen als dauerhaft imaginiert werden, nur in ihm kann die als Strafe verhängte Trennung rückgängig gemacht und die verlorene Einheit wieder hergestellt werden.

Begehren – Erwartung – Erfüllung – Verlust: schicksalhafte Stationen jeder Beziehung, sofern sie sich nicht institutionalisiert oder in Gewohnheiten stabilisiert. Das Geliebte zu besitzen ist unmöglich. Sich für immer mit ihm zu vereinigen bedeutete das Ende der Liebe – und das Ende der Bilder. Der Rückzug vom anderen, der Wiedergewinn der Autonomie, gibt dem Individuum die Chance, sich aufs neue selbst zu entwerfen. Als Figur, als das der Natur oder der Phantasie Entrissene, deren Form durch den Umriß festgelegt und zugleich für Bedeutungen geöffnet wird, gewinnt es bildliche Präsenz. Das Ich ist eine Vorstellung (im imaginären wie im dramatischen Sinn), die in unterschiedlichste Bilder gefaßt werden kann. Es ist charakterisiert von Verwandlungen, Verhüllungen, Maskierungen, in denen objektive Gestalt und subjektive Verfasstheit aufeinandertreffen und sich zum anschaulichen Zeichen verbinden. In einem gleichermaßen spontanen und überlegten Akt der Selbstsetzung (er)findet sich das Ich – abseits von konventionalisierten Gesten und stereotypen ikonographischen Mustern – seine ureigenen ikonischen Äquivalente.

Die Metamorphose entzieht den Körper zwar dem begehrlichen Zugriff, nicht aber dem Blick. Das Ich, nun wieder vereinzelt, einsam, krümmt, sich in sich selbst zurück, verpuppt sich, taucht unter, tanzt, schläft und träumt. Und selbst wenn es ein Alptraum ist: das Erwachen im anderen und damit neue Liebesgeschichten, neue Verwandlungen stehen ihm bevor.

Harald Jurkovič

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